ZEIT ONLINE (March 31, 2022)
Debatte über den Ukraine-Krieg:
"In Deutschland wird gerade ein Märchen über den Krieg lanciert"
Die ukrainische Sängerin Mariana Sadovska hat im Kanzleramt eine bewegende Rede gehalten. Aber nicht nur dort wolle man ihr und den Ukrainern nicht zuhören, glaubt sie.
Interview: Dirk Peitz
"Wir haben auch ein Recht auf Forderungen, nicht nur auf
Mitleid": die ukrainische Sängerin Mariana Sadovska bei ihrer
Rede im Bundeskanzleramt.
© Carsten Koall/AFP/Getty Images
Die in Deutschland lebende ukrainische Sängerin Mariana Sadovska hat am Montagabend auf einer Veranstaltung im Bundeskanzleramt gesprochen, zu der Kulturstaatsministerin Claudia Roth eingeladen und an der Bundeskanzler Olaf Scholz teilgenommen hat. Anlass war die Veröffentlichung des Sammelbandes "Le Grand Tour", zu dem 27 Autorinnen und Autoren aus allen EU-Mitgliedstaaten Texte beigetragen haben. Neben dem Herausgeber des Buches, Olivier Guez, saßen auf dem Podium zu einer Diskussion vier der Autorinnen und Autoren, Eva Menasse, Michal Hvorecký, Agata Tuszyńska und Daniel Kehlmann – sowie Mariana Sadovska. Sie bekam allerdings kein Mikrofon und auch keine Frage gestellt.
ZEIT ONLINE: Frau Sadovska, wie und wann sind Sie zu der Veranstaltung "Kultur im Kanzleramt" am Montag eingeladen worden? Die sollte eigentlich von einem Buchprojekt handeln, in dem die Ukraine gar nicht vorkommt.
Mariana Sadovska: Die Einladung kam sehr kurzfristig per Mail am vergangenen Freitag. Eigentlich war ein befreundeter ukrainischer Künstler, der Musiker Yuriy Gurzhy, zu der Veranstaltung als Gast eingeladen, doch er konnte zeitlich nicht. Er schlug stattdessen mich vor. Ich kannte den Anlass der Buchvorstellung und wusste, dass die Ukraine Thema an dem Abend werden sollte. Also habe ich gleich geantwortet, dass ich mich freuen würde, dort teilzunehmen. Und dass ich mich noch mehr freuen würde, wenn ich zu Wort käme und ein Statement verlesen könnte, im Namen der ukrainischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, mit denen ich in ständigem Kontakt bin. Ich erhielt dann einen Telefonanruf aus dem Kulturstaatsministerium, der sehr freundlich verlief: Man bespreche, ob ich dort reden dürfe. Am Montagmorgen bekam ich einen weiteren Anruf: Man freue sich sehr, dass ich als Gast teilnehmen würde, dass ich aber leider nicht selbst das Wort ergreifen könnte. Die Veranstaltung sei lange geplant und ein solcher Beitrag nicht vorgesehen. Woraufhin ich geantwortet habe: "Wir hatten alle andere Pläne, bevor die Ukraine von Russland angegriffen wurde."
ZEIT ONLINE: Es sollte über die Ukraine, aber ursprünglich nicht mit einer Ukrainerin diskutiert werden?
Sadovska: So habe ich das verstanden. Woraufhin ich gesagt habe, dass ich unter diesen Umständen leider nicht kommen könne und durchaus öffentlich darüber sprechen würde. Ich trete derzeit auf vielen Veranstaltungen auf, ich bin als Sängerin auch eine öffentliche Person. Einige Stunden später erhielt ich erneut einen Anruf. Darin sagte man mir, dass ich zu Wort kommen dürfe: Es wäre schön, wenn ich ein Gedicht vorlesen würde.
ZEIT ONLINE: Sie haben dann stattdessen zunächst eine kurze, sehr bewegende Rede gehalten – da ich selbst im Publikum saß, kann ich das sagen. Erst am Ende haben Sie ein Gedicht der ukrainischen Autorin Kateryna Babkina rezitiert, Der gestiefelte Kater, entstanden kurz nach der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014.
Sadovska: Ich habe über Serhij Schadan und Jurij Andruchowytsch gesprochen, über eigentlich alle Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die in der Ukraine sind und derzeit leider keine Kunst schaffen können, nicht schreiben können, nicht an Diskussionen teilnehmen können. Sondern kämpfen, und zwar im ursprünglichen Sinne dieses Wortes. Mir ist wichtig, dass man sie hört. Darum habe ich Kateryna Babkinas Gedicht vorgelesen. Aber ich sah es auch als meine Verantwortung an, darüber hinaus etwas zu sagen. Wir ukrainischen Künstlerinnen und Künstler dürfen nicht als Schmuck für einen Abend im Kanzleramt betrachtet werden. Wir müssen die Möglichkeit bekommen, unsere Stimme zu erheben.
ZEIT ONLINE: Sie haben direkt nach dem Bundeskanzler gesprochen, der eine etwa siebenminütige Begrüßungsrede gehalten hat. In der sprach er explizit auch zur Ukraine. Er sagte, dass Europa der Ukraine "mit Sanktionen, Hilfe und Unterstützung" zur Seite stehe, und dass es in diesem Krieg um die Verteidigung von "Demokratie, Freiheit und die Selbstbestimmung der Völker" gehe. Er hat dann auch von Russland gesprochen und sagte, "Putins Krieg" sei auch "ein Verbrechen am russischen Volk". Wie haben Sie diese Rede empfunden?
Sadovska: Wir Ukrainerinnen und Ukrainer erleben gerade zunehmend, wie in Deutschland unser Land offenbar nicht als eigenständig betrachtet wird. Immer wieder bindet man die Ukraine und Russland zusammen und spricht vom russisch-ukrainischen Dialog. Auch nach mehr als 30 Tagen Krieg will man die Ukraine offenbar weiterhin nicht als eigenes Subjekt sehen. Ich habe das Gefühl, dass in Deutschland gerade ein Märchen über den Krieg lanciert wird: über den bösen Putin, die armen Ukrainer, die Hilfe brauchen – und diejenigen mutigen Russen, die sich Putin entgegenstellen. Deren Kultur, heißt es, müsse gefeiert werden. Es ist, als zöge man sich eine rosarote Brille an, durch die man die Wahrheit nicht erkennen muss, die einem ein so schlechtes Gewissen macht.
ZEIT ONLINE: Und zu der Wahrheit gehört, dass sehr viele Russinnen und Russen, mutmaßlich die Mehrheit von ihnen, den Krieg begrüßen oder den "militärischen Sondereinsatz", von dem in der russischen Propaganda die Rede ist?
Sadovska: Blendet man diese Tatsache aus, hat man eine Entschuldigung dafür, dass Deutschland weiter mit Russland Geschäfte macht und sich in seinem Handeln vor allem von wirtschaftlichen Interessen leiten lässt. Man hat hierzulande Angst, die Wahrheit zu hören. Deshalb muss man als Ukrainer in Deutschland kämpfen, um angehört zu werden. Deshalb durfte ich im Kanzleramt zwar auf dem Podium sitzen, hatte aber kein Mikrofon und wurde auch nichts gefragt. Und deshalb wurde ich beim Empfang hinterher, als ich versuchte, mich an Herrn Scholz zu wenden, sofort unterbrochen von jemandem seiner Leute. Man will nicht hören.
ZEIT ONLINE: Was genau?
Sadovska: Man will nicht über die Zehntausenden russischen Soldaten reden, die gerade in der Ukraine töten, vergewaltigen, rauben, Bomben abwerfen. Man will nicht über die unzähligen Menschen reden, die in Russland in Waffenfabriken arbeiten, die die russische Armee für ihren Feldzug gegen die Ukraine ausstatten. Man will die Stimmen der russischen Propagandisten nicht hören, von Wissenschaftlern, Künstlern, Sportlern, die diesen Krieg rechtfertigen. Man will nicht hören, wie viele Menschen in Russland stolz sind auf Putins Verbrechen. Und man will nicht sehen, dass auch in Deutschland auf die Haustüren von Ukrainern das weiße Z der russischen Propaganda gemalt wird, und dass noch am Sonntag ein langer Autokorso zur Unterstützung von Putins Regime durch Bonn fuhr. Und bei der Verteidigung der russischen Kultur will man nicht sehen, wie chauvinistisch diese Kultur teils ist. Dabei erleben wir Ukrainer, aber auch Belarussen und Georgier seit Jahren, dass selbst russische Oppositionelle die Existenz unserer Länder nicht akzeptieren. Das alles will man in Deutschland nicht hören.
ZEIT ONLINE: Was will man stattdessen hören und sehen?
Sadovska: Man will uns Ukrainerinnen und Ukrainer als Opfer betrachten. Statt unseren Mut zu erkennen. Das habe ich Herrn Scholz auch versucht zu sagen: dass ich von der deutschen Bundesregierung denselben Mut erwarte, wie ihn derzeit die Ukrainer zeigen, die ihr Land verteidigen. Und dass die deutsche Wirtschaft und die deutschen Arbeitsplätze nicht gegen Menschenleben von Ukrainern aufgerechnet werden dürfen.
ZEIT ONLINE: In Ihrer Rede sind Sie auch auf die Veranstaltung eingegangen, die der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am zurückliegenden Sonntag in Schloss Bellevue ausgerichtet hat. Sie hat erhebliche Reaktionen ausgelöst, etwa des ukrainischen Botschafters in Deutschland, der auf Twitter öffentlich die Einladung ausschlug. Musikerinnen und Musiker aus der Ukraine, aus Russland, Belarus und Deutschland spielten zusammen, auch Werke ukrainischer Komponisten. Sie sagten einen Tag darauf also im Kanzleramt: "Das Feigenblatt dieser Veranstaltung bildeten zwei Werke des ukrainischen Komponisten Walentyn Sylwestrow, während russische Bomber ukrainische Städte und Zivilisten bombardierten. Wie viel Zynismus und Bigotterie müssen wir noch ertragen?" Haben Sie sich am Montag auch als Feigenblatt empfunden?
Sadovska: Nein, ich habe ja dafür gekämpft, zu Wort zu kommen. Was mich aber sehr getroffen hat, war die Tatsache, dass ich nach meiner Rede dann später während der Podiumsdiskussion nichts sagen durfte. Selbst dann nicht, als Daniel Kehlmann sagte, man werde in Deutschland die russische Kultur trotz allem feiern – und er daraufhin von den Anwesenden Applaus bekam.
ZEIT ONLINE: Kehlmann sagte: "Ich finde es nicht empörend, wenn jetzt russische Musiker ukrainische Musik aufführen. Weil das in gewisser Weise genau das ist, was wir jetzt brauchen. Und es sind genau diese Russen, die russischen Feinde von Putin, die uns immer gewarnt haben und auf die wir nicht hören wollten. Und jetzt plötzlich wollen wir sie verantwortlich machen letztlich dafür, dass wir nicht auf ihre Warnungen gehört haben? In rein praktischer, rein politischer, zukunftsgerichteter Hinsicht: Wenn es je ein freies, demokratisches Russland wieder geben soll irgendwann, und das hoffen wir doch alle, müssen es diese Menschen aufbauen. Wer denn sonst?"
Sadovska: Herr Kehlmann kennt offensichtlich nicht die Erfahrung, dass ihm durch die russische Seite seine nationale, sprachliche und kulturelle Identität abgesprochen wird. Außerdem ist seine Aussage perfide. Die russischen Musiker und Musikerinnen sind doch nicht das Problem, sondern dass dieser Abend mit einer paternalistischen Gutsherrengeste veranstaltet wurde. Man entlässt, auch mit besten Absichten, die Ukraine nicht aus dem jahrhundertelangen Würgegriff Russlands.
ZEIT ONLINE: Dieser "russische Würgegriff" schien Ihnen bei der Veranstaltung des Bundespräsidenten nach wie vor zu herrschen?
Sadovska: Ich habe ein Bild im Kopf angesichts dieses Konzerts im Schloss Bellevue. Stellen Sie sich vor, nach dem Überfalls Deutschlands auf Polen im Zweiten Weltkrieg hätte es in London ein Konzert zur Unterstützung von polnischen Geflüchteten gegeben, mit polnischen und deutschen Musikern. Man hätte Wagner gespielt, ein deutscher Dirigent hätte dirigiert, ein deutscher Pianist hätte gespielt, ein deutscher Opernsänger hätte gesungen. Hätte man sich gewundert, wenn der polnische Botschafter bei einer solchen Veranstaltung nicht dabei hätte sein wollen? Und hätte man sich gewundert, wären polnische Menschen empört gewesen über die Veranstaltung? Welchen historischen Vergleich sollte man denn sonst ziehen? Niemand in Deutschland würde heutzutage sagen, allein Hitler und seine Eliten seien für die Verbrechen des Naziregimes verantwortlich gewesen. Millionen Deutsche haben ihnen dabei geholfen. Allein die These, nur Putin sei verantwortlich für den Krieg in der Ukraine, ist also unsinnig. Die Deutschen haben die historische Verantwortung für das übernommen, was unter dem Naziterror begangen wurde. Eine ähnliche Verantwortung werden auch die Russen für das Verbrechen an der Ukraine übernehmen müssen.
ZEIT ONLINE: Im Namen der Ukrainer sagten Sie im Bundeskanzleramt: "Wir haben auch ein Recht auf Forderungen, nicht nur auf Mitleid. Wir wurden in unserer Geschichte schon zu oft zum Objekt degradiert. Diese Zeit ist jetzt vorbei." Der letzte Satz klingt auch wie eine Forderung. Fürchten Sie, dass mindestens in der deutschen Diskussion die Ukraine weiter ein Objekt bleibt?
Sadovska: Wir kämpfen dafür, nicht weiter Objekt zu sein. Ich zweifle nicht daran, dass mein Land zum Subjekt der eigenen Entscheidungen wird. Die Frage ist nur: Welcher Preis wird dafür nötig sein?
ZEIT ONLINE: Sie zitieren in Ihrer Rede aus einem Brief, den Sie von einer deutschen Familie erhalten haben. Die schreibt darin: "Wenn die Welt untergeht, weil wir der Ukraine helfen, dann soll es halt so sein!" Das wäre ein sehr hoher Preis. Als Sie diesen Satz vorgetragen haben im Kanzleramt, hatte man im Publikum das Gefühl, dass es plötzlich noch stiller wurde. Als sei da das Ausmaß der Forderung deutlich geworden, die an uns alle gestellt werden könnten.
Sadovska: Als ich den Satz in diesem Brief zum ersten Mal gelesen habe, habe ich geweint. Weil ich gemerkt habe, wie viel Verzweiflung darin steckt. Und ich hoffe, dass er sich nie bewahrheiten wird. Aber diese Verzweiflung entspringt tiefer Empathie. Und die kommt von jemandem, der die rosarote Brille, von der ich gesprochen habe, nicht aufziehen will. Das sind natürlich starke Worte, schreckliche Worte. Für mich drücken sie einen letzten emotionalen Schrei aus, der sagt: Lasst uns etwas tun! Eigentlich drückt dieser Schrei den Willen aus, mutig zu sein, Haltung zu zeigen. Dass wir uns nicht wieder von Putins Drohungen einschüchtern lassen, diesmal droht er sogar mit Atombomben. In Deutschland glaubt man, dass man mit Gewalt nichts erreichen kann. Wladimir Putin aber benutzt genau die Drohung mit Gewalt und dann letztlich auch die Gewalt immer wieder: in Syrien, in Georgien, in Tschetschenien, überall. Und die Welt hat stets nur reagiert: "Wir dürfen uns bloß nicht provozieren lassen! Denn dann würde Putin ja erst recht Gewalt benutzen!" Wie infantil ist das? Lasst uns mutig sein!
ZEIT ONLINE: Mut wozu?
Sadovska: Widerstand zu leisten, so wie wir Ukrainer das nun seit über 30 Tagen tun. Sieht man das hier in Deutschland überhaupt? Statt nur über den Mut einer russischen Journalistin zu sprechen, die in einem Fernsehstudio ein Spruchband hochgehalten hat, sollte man mehr über die Menschen in okkupierten ukrainischen Städten reden, in Cherson, Nowa Kachowka, Enerhodar, die auf die Straße gehen und sich den russischen Soldaten entgegenstellen. Diese Menschen zahlen dafür keine Geldstrafen, sondern im schlimmsten Fall mit ihrem Leben. Und trotzdem gehen sie auf die Straße. Welchen Mut die Menschen von Mariupol haben müssen! Diesen Mut wünschen, diesen Mut fordern wir auch von den Menschen in Russland.
ZEIT ONLINE: Sie sagten in Ihrer Rede: Wenn Sie gefragt würden, was die Ukraine sei, würden Sie immer auf Aussagen Ihres deutschen Mannes verweisen. Der sage: "Die Ukraine ist die geilste Demokratie im postsowjetischen Raum! Sie ist das spannendste Nation-Building-Projekt, das Europa je hatte: Die Ukraine ist multinational, multilingual, und multireligiös." Wird in erster Linie diese Idee von den Menschen in der Ukraine gerade verteidigt?
Sadovska: Natürlich. Und wenn man sagt, dass dort gerade auch die ukrainische Kultur verteidigt wird, dann ist damit keine ethnisch-einheitliche gemeint. Das ist jüdisches Leben. Das sind die Theaterstücke, Musik, Bücher der Krimtartaren. Das sind die Traditionen der Dörfer nahe Mariupol, in denen Griechisch gesprochen wird. Das sind polnische, albanische, rumänische, ungarische Einflüsse. Auf dem Maidan standen schon alle Religionen, Ethnien, Nationalitäten, gesellschaftlichen Gruppen zusammen. Und sie verteidigen heute gegen Russland die Einheit in Vielfalt und die bedingungslose Liebe zur Freiheit.
ZEIT ONLINE: Der US-Historiker Timothy Snyder, wohl einer der besten westlichen Kenner der Geschichte der Ukraine, sagte zuletzt, dort werde vor allem eine Zukunftsidee verteidigt. Im Gegensatz auch zu den Bestrebungen Wladimir Putins, der die Geschichte zurückdrehen wolle. Worin bestünde eine solche Zukunftsidee Ihrer Meinung nach?
Sadovska: Die Möglichkeit zur Zukunft selbst zunächst. Darum habe ich in meiner Rede auch Serhij Schadan zitiert, der sagt: "Im Falle einer Niederlage verlieren wir nicht nur Teile unseres Territoriums, wir verlieren unsere Zukunft, wir verlieren uns selbst." Der deutsche Historiker Jörg Baberowski sagte zuletzt in einem Interview, dass die Aussage, dies sei ein Kampf zwischen Demokratie und Diktatur, nicht ganz richtig sei. Denn Putin hätte die Ukraine auch angegriffen, wenn sie autoritär geführt würde. Dass die Ukraine unabhängig sein will, verzeiht Putin ihr nicht. Dass dort Demokratie herrscht, interessiert ihn weniger. Ihm geht es nur darum, das zaristische russische Imperium wieder zu errichten. Putin will die Zeit zurückdrehen. Dem stellen wir uns entgegen, als mutige Ukrainer und hoffentlich auch zusammen mit mutigen Europäern.
ZEIT ONLINE: Was erwarten Sie dahingehend von der deutschen Bundesregierung und dem Bundeskanzler Olaf Scholz?
Sadovska: Das, was ich Herrn Scholz auch beim Empfang am Montag versucht habe zu sagen und was ich glaube, im Namen der Ukrainerinnen und Ukrainer fordern zu können. Den kompletten Stopp von Gas- und Ölimporten aus Russland, egal wie teuer uns das hier zu stehen kommt. Wir erwarten Hilfe zur Selbstverteidigung in Form von weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine. Und wir erwarten Hilfe dabei, russische Kampfflugzeuge am ukrainischen Himmel zu stoppen, also die Einrichtung einer sogenannten Flugverbotszone. Das, davon bin ich überzeugt, wird die imperialistischen Träume Wladimir Putins stoppen. Und je schneller das passiert, desto weniger weiteres Blut wird vergossen.
ZEIT ONLINE: Und manche Forderungen, auch aus Deutschland, die Ukraine möge möglichst bald eine Verhandlungslösung suchen, notfalls auch zu einem ungewissen Preis, halten Sie nicht für sinnvoll?
Sadovska: Natürlich wollen wir ein schnelles Ende des Krieges. Aber zu welchem Preis? Russland hat alle Verträge mit der Ukraine gebrochen. Wir vertrauen keinem Papier mehr. Und die These, Kapitulation könne die Ukraine und viele Menschenleben retten, ist eine Illusion. Wir Ukrainer haben den Imperialismus des russischen Reiches und die stalinistische "Säuberung" erlebt, und wir haben erlebt, wie die Idee des Stalinismus wiedergeboren wurde im heutigen Russland und dort gefeiert wird. Kapitulation würde noch mehr Blutvergießen bedeuten. Kapitulation würde bedeuten, dass aus der Ukraine ein einziger riesiger Gulag gemacht würde. Kapitulation ist keine Option. Wir lassen uns von einem Monster keine Bedingungen diktieren. Der ukrainische Dissident Wassyl Stus schrieb im sowjetischen Straflager: "Wir fliegen in die Zukunft, und wenn es uns das Leben kostet. Wir geben nicht auf. Wir leisten Widerstand.“